Geheimnisvoller Miami-Circle Auf den Spuren eines archäologischen Rätsels von Gisela Ermel
Sommer 1998: Die Entdeckung
Miami, Florida.
Mal unter sengender Hitze, mal unter tropischen Regengüssen, buddeln sich Tag für Tag, Woche für Woche, ein paar Archäologen und ihre Helfer im Schatten gigantischer Hochhäuser durch die Erde des Ausgrabungsplatzes 8DA12 - die "Brickell Point Archaeological Site" - mitten im Zentrum von Miami City. Michael Baumann, Chef der Brickell Point Ltd. Baufirma, hatte das Grundstück für ganze acht Millionen Dollar erworben, und sein Plan sah vor hier einen zweitürmigen Hochhauskomplex mit gut Tausend Apartments, mit Büroräumen, Restaurants, Shops und Parkplätzen zu errichten. Die beiden Türme sollten jeweils 39 bzw. 49 Stockwerke hoch aufragen, gelegen an der vornehmen Adresse 401 Brickell Avenue - mit einem dann sicherlich überwältigendem Blick über die nahegelegene Mündung des Miami River in die Biscayne Bay. Baumann hatte bereits fast 50 Millionen Dollar investiert in die Entwicklung der Baupläne und in den Abbruch eines Apartmentgebäudes aus den 1950er Jahren, das dort - armselige sechs Stockwerke hoch - gestanden hatte.
Michael Baumann war optimistisch, was die Durchführung seiner Baupläne anbelangte, hatten ihm doch die zuständigen Leute der Stadt Miami bereits die Baugenehmigung versprochen, und dies, obwohl eigentlich zuvor eine Ordonanz des Miami-Dade County hätte abklären müssen, ob eventuell archäologische Hinterlassenschaften im Erdboden gegen eine neue Bebauung sprächen. Nichts konnte schief gehen. So dachte Baumann. Nicht wieder so ein Reinfall wie in den 1980er Jahren, als er in einen lächerlichen Kampf um ein Eigentumswohnungsprojekt am Oleta River in Nord Miami Beach verwickelt worden war, bei dem es um die Erhaltung wertvoller Mangroven-Bestände und anderen "Naturschutz-Firlefanz" gegangen war. Baumann hatte damals den Prozess gegen die Naturschützer verloren, einen brutalen Kampf, der den Staat und die Stadt Miami viele Millionen Dollar gekostet hatte.
Doch diesmal war Baumann frohen Mutes, gab es doch auf diesem Grundstück mitten in der City weder wertvolle Mangroven noch seltene Pflanzen oder Tiere. Baumann hatte sogar großzügig die Erlaubnis erteilt, auf dem Abrissgelände archäologische Routine-Ausgrabungen durchzuführen - natürlich nur bis zu Beginn der Bauarbeiten. Und die waren für Mitte Februar des folgenden Jahres fest eingeplant.
So arbeiteten sich denn Robert Carr und seine Mitarbeiter fleißig mit Schaufeln, Pinseln, Händen und all dem archäologischen Equipment durch die Erde.
Robert Carr, Archäologe und damals Direktor der Miami-Dade County Historic Preservation Division, war in Miami aufgewachsen und hatte sich schon als Kind für Archäologie und Geschichte interessiert. Immer wieder gern gab er in Interviews eine Episode aus seinen Knabenjahren zum Besten: Als er im 7. Schuljahr war, kam eines Tages ein Mitschüler, Mark Green, in den Klassenraum. Stolz präsentierte dieser eine Tasche voller Indianerartefakte, die er an einer Stelle in der Stadt gefunden hatte, die er nicht verraten wollte. Der Knabe Robert war wie elektrisiert von der Vorstellung, dass man direkt hier, mitten in seiner Heimatstadt, alte Indianersachen finden konnte. Nach ein paar Tagen eindringlicher Überredungskünste und dem Abtreten des täglichen Lunch-Geldes hatte Robert seinen Mitschüler so weit, dass dieser bereit war, ihn zu dem geheimen Platz zu führen. Beide Jungen wurden schnell dicke Freunde und Robert tauchte ein in die aufregende Welt der Vergangenheit und der Indianer. Er begann bald damit, kleine Berichte und Notizen darüber zu verfassen, was Mark und er sahen und fanden. Als Carr die Miami High School abgeschlossen hatte und sein Vater ihm empfahl, nun mal zur Abwechslung "etwas Praktisches" zu machen, ging er statt dessen auf die Universität von Miami und studierte Archäologie und Anthropologie. Seinen ersten Job gab ihm dann Ross Morrell, ein Archäologe im Dienst des Staates Florida in Tallahassee. Als er Carr einstellte, soll er zu diesem gesagt haben: "Bob, ich will, dass du weißt, warum ich dich einstelle. Ich stelle dich ein, weil du von Miami bist. Niemand will dorthin gehen und arbeiten."
In der Tat galt Südflorida - im Vergleich mit den großartigen Ausgrabungsstätten an anderen Orten der USA - nicht gerade als das El Dorado der Archäologie. Was sollte man hier schon finden außer ein paar Keramikscherben, Haifischzähnen und Muschelschalen? Okay, 1959 hatte man Knochen und Artefakte ausgegraben in einer Grabstätte im benachbarten Broward County und sie den Tequesta-Indianern zugeordnet. Die damaligen Ausgräber hatten den Platz in einem bejammernswerten Zustand zurückgelassen. Alles - von Knochen bis zu Schüttelsieben - lag verstreut umher, in kompletter Missachtung für den heiligen Boden und die darin ruhenden Verstorbenen. Die paar Knochen, die man mitgenommen hatte, lagerten sodann in einfachen Pappschachteln im nahen Boca Raton und in einem Museum in Dania, Florida - und keiner hielt sie einer weiteren Untersuchung wert.
Seitdem hatte sich viel verändert. Museen entwickelten sich zu Lernstätten, anstatt nur die "Hinterlassenschaften unzivilisierter Leute" zu katalogisieren und im Archiv verstauben zu lassen. Knochen müssen nun, nach den mit ihnen durchgeführten Untersuchungen, zurückgegeben werden, um wieder bestattet werden zu können. Doch selbst in diesem Punkt war Michael Baumann unbesorgt: Sollten die Archäologen auf seinem "Brickell Point" ein paar Knochen finden, was soll's! Die Tequesta-Indianer, die hier einst in vergangenen Zeiten gehaust haben mochten, hatten diesen gerichtlichen Schutz nicht, der ihnen die Rückgabe der Knochen garantierte (und deren Fund den Bau des Baumannschen Hochhauskomplexes vielleicht ein wenig hätte hinauszögern können), und dies aus einem ganz einfachen Grund: Es gab keine Tequesta-Nachkommen mehr. Die 30 letzten Überlebenden von Kriegen, Krankheiten und Hungersnöten - alles den Europäern verdankend in der so glorreichen Eroberungszeit - waren von Spaniern kurzerhand mit nach Kuba genommen worden, wo sich ihre Spuren verloren.
Vielleicht war Baumann ja doch ein wenig unruhig, denn immer wieder mal tauchte er auf seinem Grundstück auf und betrachtete, freundlich lächelnd und gönnerhaft die "Schätze", die diese Herren Archäologen unter Schweiß- und Wolkenbruchströmen zu Tage gefördert hatten. Alles war friedlich, Baumann gönnte den fleißigen "Maulwürfen" ihre Scherblein und Fischnetzgewichte aus Wellhornschnecken. Wenn erst mal sein Prachtbau hier stehen würde, würde auch hier das schnelle und aufregende Stadtleben pulsieren.
Aber noch schlief der Bauplatz seinen Dornröschenschlaf. Und hätte eine dieser hier grabenden oder dabei zusehenden Personen geahnt, was hier bald passieren sollte, so hätten die Haare auf all ihren Köpfen schon jetzt zu Berge gestanden!
Der zweite Archäologe dieses Teams um Robert Carr war John Ricisak, der schon so mancherlei erlebt und gesehen hatte und ganz sicher zu diesem Zeitpunkt glaubte, einen ruhigen und aufregungslosen Job zu erledigen. Ricisak hatte zunächst eine Karriere als Jurist angestrebt gehabt, doch ein Kursus in Kulturanthropologie, an dem er in Florida teilnahm, hatte ihn so für die Vergangenheit begeistert, dass er spontan umsattelte. Er arbeitete sodann als graduierter Anthropologie-Student am bekannten Windover-Platz Titusville, wo die Skelette von 169 Erwachsenen und Kindern ausgegraben wurden, 90 von ihnen mit intakten Gehirnen - die ältesten menschlichen DNA-Proben der Neuen Welt. Später arbeitete Ricisak in einer etruskischen Siedlung auf einem italienischen Weingut, eine aufregende Zeit, in der er sich als Barkeeper, Buchbinder, Truckdriver, Traubenleser und Nacktmodell über Wasser gehalten hatte.
Seit 1991 arbeitete er nun in Florida. Und er war sicherlich das Musterbeispiel für einen beeindruckenden "Indiana Jones", wenn er braungebrannt und leger gekleidet auf seinem Motorrad zum Ausgrabungsplatz "ritt", um dort seine Muskeln zum Einsatz zu bringen - und seinen klaren Verstand, was sich bald als nötig erweisen sollte.
Mit im Team: der Archäologe "Bernie" W. Powell sowie Ted Riggs, ein Landvermesser und eingefleischter Amateur-Archäologe in den 70ern, und einige weitere Freiwillige. Sogar Miami-Touristen die sich von Sonne und Strand hatten fortlocken lassen, um einmal zu erfahren, wie man sich so als Hobby-Archäologe fühlt, wühlten begeistert mit bloßen Händen im "Dreck",. Dabei mag manch einem nur allzu schnell klargeworden sein, dass Archäologie zwar ein Abenteuer, in erster Linie jedoch ein langwieriger wenn nicht gar langweiliger Knochenjob ist.
Die Ausgräber wurden nicht enttäuscht. Unzählige Tonscherben, verkohlte Holzfragmente, Perlen, Tierknochen, Feuersteinstücke und vieles mehr schienen darauf hinzuweisen, dass das Zentrum von Miami City einst der Platz einer blühenden amerikanischen Indianersiedlung gewesen war. Die Entdeckung, dass diese Stelle in prähistorischen Zeiten bewohnt war, kam nicht ganz unerwartet. Geschichtsforscher hatten schon lange vermutet, dass man hier, an einem so vorzüglichen Platz zum Siedeln, ebenso wie an einigen anderen Plätzen in Südflorida, etwas Derartiges finden könne. Auch hatten alte spanische Dokumente aus der Zeit der Eroberer und ersten Siedler Hinweise dieser Art enthalten.
Auch moderne Relikte brachten die Ausgräber ans Tageslicht, Glasfragmente aus der spanischen Kolonialzeit, geschmiedete Eisennägel, Porzellanpfeifenstücke, Handelsperlen und zahlreiche Artefakte aus der Zeit der Koexistenz von weißen Siedlern und Indianern.
Eines Tages stieß Ted Riggs, der als Hobby-Archäologe begeistert bei der Sache war, auf ein paar merkwürdige rechteckige Löcher, eingearbeitet in einen unter der Erde liegenden Kalksteinfelsboden. Er stutzte. Waren diese Löcher nicht angeordnet wie ein Bogen? Sollten sie etwa insgesamt eine große Kreisform bilden? Riggs markierte die hypothetische Kreisform, ausgehend von den in Bogenform aufeinanderfolgenden Löchern, und sprühte munter mit fluoreszierender roter Farbe einen Kreis auf das Erdreich.
"Grabt hier!" rief er aufgeregt seinen Kollegen zu. Diese taten, was Archäologen sonst niemals tun: Sie riefen nach einem Schaufelbagger. Mit einem ordinären lauten Geräusch grub sich die metallene Klaue ins Erdreich, immer entlang der roten Linie. Nur zehn Zentimeter Erde bedeckten nun noch das, was auch immer unter Riggs Linie verborgen liegen mochte - oder nicht. John Ricisak marschierte mit einer Sonde die Kreislinie ab, um festzustellen, ob es hier noch weitere Löcher gebe. Und Riggs schien recht zu haben!
Fieberhaft arbeiteten Schaufeln und Grabwerkzeuge, und das Ergebnis überraschte nicht nur, sondern machte auch ratlos. Da hatte man etwas wirklich Merkwürdiges entdeckt. Alle liefen um einen in das Grundgestein eingearbeiteten Kreis, bestehend aus etwa zwanzig bis dreißig Löchern, die meisten mehr oder weniger rechteckig, einen Ring formend von etwa zwölf Metern im Durchmesser.
Was um Himmels willen hatte man da freigelegt? Was konnte dies darstellen? Wer hatte diese Löcher angelegt? Natur - oder Menschenhand? Hatte man die bemerkenswerten Reste eines mysteriösen, prähistorischen Monumentes gefunden? Vielleicht gar das Vermächtnis eines verlorenen Volkes?
Riggs erzählte später wieder und wieder, was ihm damals durch den Kopf gegangen war. "Das sieht aus wie ein Negativ von Stonehenge!" war sein erster Gedanke, "Statt Steinsäulen - Löcher!"
Die Archäologen taten das, was sie immer dann tun, wenn sie einen rätselhaften Fund machen. Sie kontaktierten per Telefon, Fax und Internet all ihre Kollegen fern und nah, um sich mit ihnen darüber auszutauschen, ob es schon einmal irgendwo einen ähnlichen oder gleichen Fund gegeben habe. Das Ergebnis dieser Korrespondenzen und Gespräche überraschte sie: Nein, noch niemals und nirgendwo hatte man bisher etwas Vergleichbares gefunden.
Archäologen berichten nun einmal über Funde mit Vorliebe erst dann, wenn sie dazu handfeste Fakten und hieb- und stichfeste Theorien zu bieten haben. Und so blieb es noch eine ganze Weile still um den Steinkreis auf Baumanns Grundstück. Es sollte die Ruhe vor dem Sturm sein.
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