Briefe zur Mystik
von Paul Sédir
DAS HERABSTEIGEN DES HEILIGEN GEISTES
Das lautlose Herabschweben des Heiligen Geistes auf die Erde manifestiert sich darin, dass sich die absolute Wahrheit ständig an die Aufnahmefähigkeit unseres Geistes anpasst. Das ewige Licht reagiert unaufhörlich auf die Suche des Menschen nach dem Ewigen und geht auf seine Bedürfnisse ein. Es gibt viele, die ihren Mitmenschen das Wirken des Heiligen Geistes nahe bringen wollen. Seine aktivsten Kämpfer sind jedoch nicht diejenigen, deren Namen in der Erinnerung der Menschheit haften bleiben. Sie sind nicht einmal in der Schlachtreihe der vielgeschmähten Träumer zu finden, die man als mystische Schriftsteller zu bezeichnen pflegt. Wenn man auf einen Menschen stößt, der von der ganzen Welt verfolgt wird, erhält man gerne den Eindruck, dass dieser Mensch für den Himmel arbeiten muss. Aber unter all denjenigen, welche die Wissenschaft und Weisheit der Universitäten und Kirchen verworfen haben, sind vom Standpunkt des Heiligen Geistes aus gerade diejenigen die Größten, welche am unbekanntesten geblieben sind. Eine dieser übermenschlichen Seelen nennt man den Gottesfreund. Er gibt denjenigen, die auf seinen Spuren wandeln wollen, zusammenfassend folgenden Rat: “Wenn ihr alle Buß- und Fastenübungen, alle Kasteiungen hinter euch habt, wenn ihr mystische Erfahrungen, Ekstasen und Entrückungen ausgeschöpft habt, wenn ein Strahl aus dem Mittelpunkt allen Seins eure Seele durchbohrt, umgestülpt und erneuert hat, dann müsst ihr euer Alltagsleben fortführen - gleich wie alle anderen. Geht eurem Beruf nach, ohne Aufhebens zu machen, schweigt über eure außergewöhnlichen Erfahrungen, lasst das tägliche Einerlei seinen Lauf nehmen.” Darin liegt die höchste Herausforderung. Um ihr zu begegnen, benötigt man eine unerhörte Kraft, die nur wenige Seelen besitzen.
Aber dies nur als Anmerkung. Wenn auch die Lichter, welche zur Menschheit herabsteigen, vom Heiligen Geist kommen: Ohne einen bestimmten Umstand könnte man dieses Wunder des Herabsinkens in Frage stellen. Die Schöpfung ist und bleibt Schöpfung, die Erde bleibt gleichfalls Erde. Und der Mensch ist dem Tier nah verwandt: In ihm wohnt ein Prinzip des Ungleichgewichts, der Disharmonie, der Erdenschwere, des Kampfes. Dieses Prinzip ist das Ichbewusstsein. Je mehr man dieses Ich zusammenpresst, desto wütender, verzweifelter und wirbelnder wird es. Ein gewaltiger Hunger peinigt es, es verspürt intensive Wünsche, heftige Begierden. Es wird zu einem Malström , der genauso tief ist wie das Wesen, zu dem er gehört. Neben anderen Dingen zieht es auch die spirituellen Lichter an - und färbt sie seinem eigenen Wesen entsprechend ein. Deshalb gibt es auf der Erde keine vollkommene Wahrheit, außer in dem Bereich, den wir dem Buch des Lebens verdanken. Alle Bücher der Menschen und all ihre Äußerungen sind immer mit Irrtum oder Dunkelheit vermischt. Die Truppen des Herrn dieser Welt lauern im Sichtbaren wie im Unsichtbaren. Oft genug sorgen sie dafür, dass das gute Korn nicht richtig Fuß fassen kann.
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